Bilder vor Augen. Bilder im Kopf.

Susanne Buckesfeld 

 

Es ist der eine Kopf, der dafür herhalten muss,

der sich ausliefert, indem er Sätze denkt.

Der seine Privatheit mitbringt. Seine Bedingungen.

Seine Erfahrungen und Erinnerungen.

Der seine Grenze hat, wie auch die Sprache,

die er denkt, ihre Grenze hat.

(Peter Härtling)

 

Wie sehen wir die Welt? Und wie schauen wir ein Bild an, wie nehmen wir es wahr? Was führt dazu, dass uns ein Bild ins Auge fällt, das andere aber nicht? Fragestellungen dieser Art liegen der künstlerischen Arbeit von Britta Lenk zugrunde. Ästhetisch zu untersuchen, mit welchen Mitteln wir uns überhaupt ein Bild machen, beschäftigt die Künstlerin in ihren Werken vorrangig. Entsteht ein Bild allein in unserem Kopf? Sehen wir tatsächlich alle das gleiche Bild, wenn wir eines gemeinsam mit anderen betrachten? Gibt es sie also, die eine, unverrückbare Realität, an der wir alle übereinstimmend teilhaben? Können wir uns auf eine gemeinsame Wahrnehmung verständigen? Oder ist es vielmehr so, dass jeder und jede von uns die eigene Wahrheit in sich trägt, so dass ein gegenseitiger Austausch, Empathie und letztlich auch die Möglichkeit, einander zu verstehen, völlig hinfällig sind?

 

Britta Lenk schlägt in dieser Problematik, die nicht nur kunstimmanente Fragestellungen umfasst, gleichsam einen Mittelweg ein. Sie interessiert weniger, was an der Wahrnehmung der Wirklichkeit deren unveräußerlicher Kern, ihre stets gleichbleibende Essenz, ist, sondern es geht ihr in ihrer Kunst um den Akt der Wahrnehmung selbst, durch den Wirklichkeit erst konstruiert wird. Ihrer Ansicht nach ist das Gegenüber – sei es ein Bild, ein Lebewesen oder ein unbelebtes Objekt – zwar als Gegenstand der Wahrnehmung realiter vorhanden, seine Bedeutung und so letztlich auch seine Wirklichkeit werden durch den Akt der Wahrnehmung aber erst hervorgebracht. Damit vertritt Britta Lenk dezidiert einen konstruktivistischen Ansatz. Jeder Akt der Wahrnehmung und der Erkenntnis sind für sie demnach kognitive, also geistige Konstrukte. Diese Konstrukte sind einerseits abhängig von den physischen, psychischen und kulturellen Bedingungen des Leibes, in dem Wahrnehmung und Erkenntnis stattfinden. Denn ganz unbestritten gibt es keine Wahrnehmung jenseits der Möglichkeiten und Grenzen unserer Sinne, der Kapazität unseres Empfindens und den Voraussetzungen unseres Denkapparates – also unseres Kopfes, der seine Erfahrungen und Erinnerungen mitbringt, wie Peter Härtling es ausdrückt. Andererseits hängen Wahrnehmung und Erkenntnis von der Sprache ab, die das Medium ist, mit der sie sich vermitteln, sowie von den historischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen, unter denen sie stattfinden. Diese Bedingungen als sich stets wandelnde, immer neu auszulotende Bestandteile unserer Wahrnehmung aufzudecken, ist das erklärte Ziel von Britta Lenk.

 

Die Bildwerke von Britta Lenk bieten so gesehen sinnliche Anreize für eine visuelle Wahrnehmung, die eben diese Elemente der Konstruktion sichtbar und erfahrbar macht. Ihre Bilder hat die Künstlerin mit Bedacht offen strukturiert, damit der Akt der Wahrnehmung als solcher ins Bewusstsein rücken kann und eine gültige Deutung stets in der Schwebe gehalten wird. Es ist in ihren Werken nicht der eine, klar definierte und ein für allemal festgelegte Sinn enthalten, der sich unmittelbar und gleichsam auf einen Blick mitteilt, so dass kein weiterer Gedanke mehr daran verschwendet werden müsste. Im Prozess der Wahrnehmung der Bilder von Britta Lenk wird vielmehr erfahrbar, auf welche Weise sich die geistige Konstruktion vollzieht, um das Gesehene mit vorherigen Seh-Erfahrungen abzugleichen, an eigene, persönliche Erinnerungen zu binden und es solcherart letztlich mit Sinn aufzuladen, der jedoch nie dauerhafte Gültigkeit besitzt – sieht man das selbe Bild nach einer Zeit zum zweiten Mal, und damit notwendigerweise unter etwas anderen Bedingungen der Wahrnehmung, wird man es wie mit anderen Augen, ja unter Umständen völlig neu sehen. Dieser Tatbestand ist den meisten Menschen vom Lesen eines Buches bekannt, dem – nach Jahren wieder zur Hand genommen – ein vermeintlich völlig anderer Sinn als bei der ersten Lektüre zugekommen zu sein scheint. Auch beim nochmaligen Betrachten von Filmen oder Theaterstücken verhält es sich so. Damit macht Lenk einen Aspekt sichtbar, der letztlich nicht nur für alle Bilder gilt, sondern die Rezeption jeglicher ästhetischer Erzeugnisse betrifft. Mag der Inhalt eines Bildes auch noch so offensichtlich und verständlich formuliert daherkommen – etwa in realistischer, plakativer Manier – seine Bedeutung ändert sich, wenn auch nur ein wenig, mit jedem neuen Rezeptionszusammenhang, mit jedem neuen Rezipienten, und ist daher nie ein für alle mal festgeschrieben. Britta Lenk setzt damit den Betrachter ihrer Bildwerke in ein besonderes Verhältnis. Er wird zum gleichberechtigten Partner ihrer Kunst, der an deren Sinngebung und Bedeutungszuweisung ebenso beteiligt ist wie die Künstlerin selbst. Sie bietet gleichsam nur die Vorlage für eine immer wieder neue, immer wieder andere Auslotung des Bilderlebens – wie ein Leser, der die Lücken eines Textes mit eigenen Erlebnissen füllt und das Gelesene mit individueller Bedeutung anreichert. Umberto Eco hat solcherart offen strukturierte Kunstwerke als charakteristisch für die Ästhetiken der Avantgarde eingeordnet, der Britta Lenks Arbeit daher zuzurechnen ist.

 

Auf welche Weise und mit welchen Mitteln aber gelingt der Künstlerin die Umsetzung dieser theoretischen Überlegungen im tatsächlichen, sinnlich erfahrbaren Bild? Britta Lenk widersetzt sich mit ihren Bildwerken zunächst einmal bewusst jeglicher tradierter Gattungssysteme wie etwa Malerei und Zeichnung, die ihre Bildstrategien einengen und festschreiben könnten. Sie tut dies durch eine außerordentlich einfallsreiche Verwendung von Materialien, die nicht der Malerei entstammen, aber zu Ergebnissen führen, denen wir Eigenschaften von Gemälden zuschreiben können: es sind Bildtafeln, die auf einer planen Fläche ein Bildgeschehen durch das Auftragen von auffallend leuchtenden Farben in Flächen, Formen und Linien erscheinen lassen – jenen grundlegenden Elementen also, die ein Bild ausmachen. Statt Ölfarbe und Leinwand verwendet Lenk allerdings farbige Folien, gefärbten Heißkleber, Ölpastelle und -stifte, Plexiglas und Leuchtkästen. Sie trägt auf, schiebt, klebt, föhnt, zerknüllt, zerschneidet und verwebt die Materialien miteinander. Ihr Schaffen ist damit – analog zur intendierten Bildbetrachtung – ein intuitiver, experimenteller Prozess, bei dem eins aus dem anderen erwächst und Raum für kreative Lösungen von vornherein einkalkuliert ist. Die von ihr gewählten Materialien und deren spezifische Verwendung im Bild ist sogar für eine Gegenwartskunst außergewöhnlich, die ohnehin vom Gebrauch ungewöhnlicher Materialien geprägt ist. Lenk unterläuft damit auf ihre Weise die noch immer vorherrschende klassische Tafelmalerei und erfindet sie mit den von ihr gebrauchten, industriellen und technisch hoch komplexen Materialien neu.

 

Besonders augenfällig werden diese Aspekte etwa in den Leuchtkästen von Britta Lenk. In einer Reihe von ihnen sind organisch geformte Flächen in den Grundfarben Rot, Gelb und Blau so auf einem lichtdurchlässigen Bildgrund aufgebracht, dass sie vom Rand des Bildes beschnitten werden, auf der Bildfläche aber einander überlappen. Da sie aus transparenter Folie gefertigt sind, bilden die einander überlagernden farbigen Segmente neue Farbtöne, bestehend aus den Farben der jeweiligen einzelnen Folienstücke. So wird trotz der Flächigkeit der Bildanlage gleichermaßen ein changierender räumlicher Eindruck erzeugt – wie auf einem Vexierbild, in dem mal das eine Element, mal das andere in den Vordergrund rückt. Lenk setzt dabei die verschiedenartige räumliche Wirkung der Farben wie auch der Größenverhältnisse ein. So scheint rot dem menschlichen Auge aufgrund der Wellenlänge näher als blau. Kleinere Formen wiederum werden als weiter entfernt liegend wahrgenommen, selbst wenn sie rot sind. Allein dies bewirkt schon ein ständiges Hin- und Herschweifen des Blickes, der sich an keinem zentralen Fluchtpunkt festhalten kann, auf den die Bildelemente ausgerichtet wären. Vielmehr scheint das Bild potentiell in Bewegung begriffen; keines der Teile ist auf einer bestimmten räumlichen Ebene noch an einem genau definierten Ort auf der Bildfläche festgelegt. Ob die einzelnen Farbflächen dabei eher auseinander streben oder sich gerade erst im Bild zusammen finden und dort, vielleicht miteinander ringend, ihren Platz einnehmen, ist nicht zu entscheiden. Es liegt vielmehr im Auge des Betrachters, ob ein gemächliches Treiben langsam durchs Bild taumelnder Farbkörper erkannt wird, ein fröhlich-buntes Durcheinanderwirbeln oder auch ein aggressiver Widerstreit der Farben. Genau um dieses spannungsreiche, nicht eindeutig aufzulösende Kräfteverhältnis geht es Britta Lenk in ihren additiven Bildverfahren. Zweifellos handelt es sich dabei um ästhetisch außerordentlich reizvolle Bildobjekte, die zur wiederholten und langanhaltenden Betrachtung einladen und so zu immer neuen Lesakten führen.

 

In einer Serie quadratischer Papierarbeiten setzt Britta Lenk den farbigen Folienfeldern die Dynamik sich windender schwarzer Linien entgegen. Hier treffen klar ersichtlich zwei unterschiedliche Bildebenen aufeinander und erzeugen zusammen genommen ein Drittes, das mehr ist als die Summe der einzelnen Teile. Die Assoziation an Blumen stellt sich durch die Dominanz der gerundeten Formen und Linien ein, die meist auf ein Kraftfeld im Zentrum des Blattes hin orientiert sind wie die Blütenblätter eines Korbblütlers. Diese Assoziation erfährt im Bild jedoch bewusst Irritationen, da entweder die Linien oder aber die Farbflächen diesem Schema entgegen wirken und die zuerst wahrgenommenen Blumengebilde vor dem inneren Auge wieder verblassen. Jetzt rücken die formalästhetischen Qualitäten des Bildes unmittelbar in den Vordergrund. Wieder ergibt sich eine durch die Wirkung der Linien und Farben erzeugter, komplexer räumlicher Eindruck. So wie die Linien teils Flächen, teils voluminöse Körper zu umschreiben scheinen, wirken die farbigen Felder wechselseitig flach und dreidimensional. Da sich keine durchgehende räumliche Logik zwischen den beiden Bildebenen ergibt, bleiben unüberwindbare Brüche in der Wahrnehmung, die den Blick je wieder aufs Neue auf die Erkundungsreise durch die Bildwelt Britta Lenks schicken – und immer wieder zu anderen, alternativen Seheindrücken führen.

Mit der suggestiven Kraft der farbigen Linie spielt Britta Lenk in einer Reihe von Leuchtkästen, deren transparenter Bildgrund im Zentrum mit einem Knäuel aus braunen, gelben und rosa Farbschlingen bedeckt ist, in denen sich der Blick unweigerlich verfängt. Einzelne Farbstränge ragen aus diesem Konglomerat heraus, so dass der Betrachter versucht ist, deren Verlauf durch die knotenartige Verdichtung nachzuvollziehen. Dieses Unterfangen ist jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt – zu dicht verwickeln sich die einzelnen Stränge miteinander und bilden ihrerseits eine undurchdringliche Formation.

 

Ähnlich geht die Künstlerin in einer Reihe schwarzgrundiger Arbeiten vor, auf die sie mit Ölpastellen aus hellgrünen, gelben und orangefarbigen Linien bestehende, nicht näher zu definierende Elemente aufgetragen hat. Bedingt durch die Farbgebung und die floral anmutende Form dieser Elemente ergibt sich unweigerlich die Assoziation an Pflanzenteile, was jedoch durch die Künstlichkeit des Hellgrüns wie auch durch die Art der Präsentation unterminiert wird. Die schwarzgrundigen Blätter werden mit Acrylglas verbunden mittels dem aus der zeitgenössischen Fotografie bekannten Diasec-Verfahren, so dass eine eindrucksvolle farbige Tiefe entsteht. Zusätzlich wird das Bild durch Bildrücken aus Aluminiumträgern verstärkt. Mit solch aufwändigem Verfahren präsentiert, belegen diese Bildobjekte einmal mehr Britta Lenks einfallsreichen Gebrauch von Materialien und den hohen ästhetischen Anspruch, den sie an alle ihre Werke richtet.

 

Die mit Heißkleber auf Papier aufgetragenen Lineamente einer weiteren Werkreihe Britta Lenks muten für den Kunstbetrachter zunächst einmal informell an. Doch auch hier nutzt die Künstlerin in erster Linie einen ungewöhnlichen, ursprünglich kunstfernen Stoff in seinem bildgebenden Potential. Mit ihrem beachtlichen Gespür für die Möglichkeiten, die in vollkommen entlegen scheinenden Materialien schlummern, hat sie auch diese Blätter erstellt. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um eine Linie im klassischen Sinne der Zeichnung, wo deren Verlauf, ihr Beginn und ihr Ende, ihre möglichen Unterbrechungen und die wechselnden Grade des Druckes auf den Zeichenstift nachvollzogen werden könnte – kurz: wo sich die Spur der zeichnenden Hand auf dem weißen Bildgrund materialisiert. Vielmehr überträgt Lenk das Material mit einem speziellen, aufwändigen Gerät, einer Spritzpistole für Heißkleber, auf das Blatt und plättet es anschließend, so dass der individuelle Duktus, gleichsam die Handschrift der Künstlerin, nicht zu erkennen ist. Statt um die künstlerische Geste geht es ihr um die spezifische Linearität, die aus dem Material selber erwächst. Damit unterscheiden sich diese Arbeiten Britta Lenks grundlegend von den gestischen, teils mit psychischer Dynamik aufgeladenen Bildwerken der Künstler des Informels und bilden wiederum ein ästhetisches Produkt, das die technischen Möglichkeiten unserer Zeit aufnimmt und ihnen zu entsprechen vermag.

 

Unerschöpflich scheint der Reichtum der Materialverwendung, die Britta Lenk für ihre Bildlösungen findet. Aus den Nebenprodukten ihres ästhetischen Handelns können wieder neue Werke erstehen, wie etwa die Folienbilder, die zwischen Objekt und Bild angesiedelt sind. So entspricht ihr künstlerisches Handeln einer ständigen Suche, die sie in der Struktur des eigentlichen Bildes zu verwirklichen weiß, so dass auch die Bildbetrachtung zu einem steten, erfindungsreichen Spiel gerät. In einem fruchtbaren Dialog zwischen Bild und Betrachter finden flüchtige Wahrnehmungen keine dauerhafte Basis, sondern werden zu immer neuen Konstrukten des Geistes angeregt. Die Bildsprache Britta Lenks ist dabei ebenso offen wie allgemeingültig. In ihrer formalästhetischen Qualität ist diese Sprache grundsätzlich jedem direkt zugänglich. Doch welche der ihr innewohnenden Möglichkeiten im Akt der Bildbetrachtung jeweils aktualisiert werden, ist so einzigartig wie die Privatheit des Kopfes, von dem aus sie sich vollzieht.