Die eine Möglichkeit im Blick, die andere vor Augen

Von Jens Peter Koerver

 

 

„Die großen ursprünglichen Betätigungen des menschlichen Zusammenlebens sind alle bereits von Spiel durchwoben. Man nehme die Sprache, dieses erste und höchste Werkzeug, das der Mensch sich formt, um mitteilen, lehren, gebieten zu können, die Sprache, mit der er unterscheidet, bestimmt, feststellt, kurzum nennt, d. h. die Dinge in das Gebiet des Geistes emporhebt. Spielend springt der sprachschöpfende Geist immer wieder vom Stofflichen zum Gedachten hinüber. Hinter einem jeden Ausdruck für etwas Abstraktes steht eine Metapher, und in jeder Metapher steckt ein Wortspiel. So schafft sich die Menschheit immer wieder ihren Ausdruck für das Dasein, eine zweite erdichtete Welt neben der Welt der Natur.“ 

 

Die temporären und veränderbaren Konstellationen der hier gezeigten Objekte erschaffen Bilder, die, so wie Huizinga es formuliert, den Betrachter oder Handelnden vom Stofflichen zum Gedachten spielend springen und somit zum Spielzeugen seiner selbst werden lassen. 

Zwei mögliche Bedeutungen hat das Wort Spielzeuge. Einmal benennt es die Objekte des Spiels, die Gegenstände, die ein Spiel möglich machen. Zum anderen ist Spielzeuge auch jemand, der einem Spiel zuschaut, der Zeuge dieses Geschehens wird und damit auch in einen Reflexionsprozess geraten kann, der sich unvermeidlich, unwillkürlich aus der Zeugenschaft ergibt. Ein dritter Aspekt ist mit den zuvor genannten zumindest assoziativ verbunden: der der Erzeugung, des Agierens. Neben die passive Zeugenschaft tritt die Aktivität des Herstellens und Handelns. Diese drei Bedeutungsfelder haben wesentlich mit Kurze Zeit Lange Weile zu tun.

 

Kurze Zeit Lange Weile ist eine eigenartige, in mancher Hinsicht offene, eher auf Möglichkeiten als auf Festlegungen basierende Arbeit der Künstlerin Britta Lenk. Diese Optionalität ist in ihrer Fülle noch unerprobt, weder die handgreiflichen Verwirklichungen noch die denk- und vorstellbaren Möglichkeiten dieses Werks sind vollständig absehbar. Mithin hat Kurze Zeit Lange Weile auch den Charakter eines Versuchs, es ist etwas sich entwickelndes. Zunächst einmal handelt es sich um ein umfangreiches Ensemble aus unspektakulären, handlichen Dingen. Zum einen besteht es aus mundgeblasenem farbigem Glas, das in Form von flachen rechteckigen Stücken und kreisförmigen, sich zur Mitte hin verdickenden Kreisscheiben, sogenannten Butzenscheiben, verwendet wird. Zum anderen gehören diverse von Britta Lenk aus hellem Feinbeton gefertigte einfache plastische Körper – Quader, Würfel, Kegel, Zylinder, Platten etc. teilweise in unterschiedlichen Größen – zum Inventar. 

Eine erste Variante ist der mögliche Aufbau mit einer Auswahl aus diesem Fundus durch die Künstlerin. Größe und Umfang dieses Ensembles wäre ebenso wie der Träger ortsabhängig. Die Zusammenstellung und das plastische Arrangement der Glas- und Betonelemente könnte eine Setzung auf Dauer, etwa für die Länge einer Ausstellung sein, und hätte den Charakter eines Stilllebens. Die im Titel angeführte Lange Weile wäre das Zeitmaß dieser Verwirklichung, die zunächst eine reine Anschauungssache ist, die also betrachtet, aber nicht berührt oder handgreiflich verändert werden soll.

Eine zweite Variante ergibt sich aus der Edition, die als ein pars pro toto eine spezielle Kombination aus dem Ensemble der Kurze Zeit Lange Weile-Objekte in einer Schachtel enthält. Die Handlungsmöglichkeiten mit dieser überschaubaren Menge von Elementen ist – verglichen mit dem Gesamtensemble – beschränkt und eröffnet doch einen enormen Spielraum, der wesentliche Aspekte dieser Arbeit deutlich macht. Diese Beschäftigung, deren Ort sowenig festgelegt ist wie ihre Art und Dauer, ist eine freie. Diese Schachtel gestattet alle möglichen Formen der Auseinandersetzung. Die im Titel der Arbeit thematisierte (Zeit-)Spanne und Spannung, die Möglichkeiten des Augenblicks wie auch die der Dauer können wirksam gemacht und erfahren werden. 

Die dritte Variante ist bestimmt von größter Offenheit. Sie besteht in der allein imaginierten Handhabung. Angesichts der Abbildungen in dieser Publikation oder einer umfangreicheren realen Präsentation oder des bloßen Inhalts der Schachtel entstehen Vorstellungen möglicher anderer Konstellationen, ergeben sich Veränderungswünsche, die jedoch ein Gedankenspiel bleiben. Dieser Prozess erschöpft sich – unabhängig von der Form, die er annimmt – nicht im Augenblick, sondern setzt sich auf einer introspektiven Ebene als Ideenhandlung statt als physische Aktion fort. Kurze Zeit Lange Weile wird zum Anstoß, ein Ausgangspunkt, der, weiter gedacht, auf eine immaterielle, sich in der Zeit fortschreibende Optionalität verweist, eine Art kurzen Aufscheinens eines inneren Bildes, dem eine Idee entspringt.

 

Gerade diese dritte Variante rückt Kurze Zeit Lange Weile in die Nähe der Konzeptkunst. Schon bei Marcel Duchamp ist die Idee angelegt, das sich das Kunstwerk in der Betrachtung, der Auseinandersetzung im wahrnehmenden Subjekt nicht nur fortsetzt, sondern sich in gewisser Weise erst in diesem und seinem beteiligten Zutun vollendet. Diesen Impuls verstärkt und radikalisiert Ende der 1960er-Jahre die Konzeptkunst, indem sie ganz auf die Vorstellung setzt und die Realisation des Werks als ein intensives Zusammenspiel zwischen Anstößen in Gestalt eines Textes, einer Handlungsanweisung, eines provisorischen Objekts oder Fotografien und dem Rezipienten in Gang setzt. Exemplarisch wird diese Haltung in Lawrence Weiners oft zitierten, 1969 veröffentlichten „Absichtserklärung“: „1. Der Künstler kann die Arbeit herstellen / 2. Die Arbeit kann angefertigt werden / 3. Die Arbeit braucht nicht ausgeführt zu werden / Jede Möglichkeit ist gleichwertig und entspricht der Absicht des Künstlers / Die Entscheidung über die Ausführung liegt beim Empfänger zum Zeitpunkt des Empfangs“. Diese Offenheit lässt auch Britta Lenk mit Kurze Zeit Lange Weile. In ihm angelegt sind unterschiedliche Präsenz- und Verwirklichungsformen. Jeder sind spezifische Qualitäten zu eigen; sie schließen sich nicht gegenseitig aus, vielmehr ergänzen sie einander und formieren sich in ihrer Gesamtheit zu dem, was diese Arbeit ausmacht.

 

Was ist Kurze Zeit Lange Weile? Ein Spiel mit einem regelbasierten Verlauf ist es nicht. Eher ist der Begriff des Gedankenspiels angebracht, trifft möglicherweise am ehesten den Kern des Versuchs, der Kurze Zeit Lange Weile ist. Was ist mit dem, was aktuell zur Hand ist, möglich, welche Konstellationen lässt es zu, welche gefallen, welche nicht, was hält und was nicht ... Natürlich lässt sich das alles auch nur vorstellen. Das Zusammenspiel von Hand und Gedanken, das komplexe Miteinander oder auch Ineinander von Anschauung und Begriff, von Tatsache und Sprache sind vor allem im realen handgreiflichen Tun komplett. 

Das Hantieren mit den verschiedenen Elementen lässt sich mit prozessualen Begriffen, die viel mit zeitgenössischer Plastik zu tun haben, beschreiben: legen, stellen, lehnen, stapeln, klemmen, schichten ... Aber es geht nicht um die Herstellung temporärer Kleinplastiken, vielmehr um eine Möglichkeit des zweckfreien, gedankenverlorenen Agierens, jenseits der Kategorien (Kunst, Spiel, Bedeutung, Sinn ...). Kurze Zeit Lange Weile ist mithin auch ein Angebot zu einem vorbegrifflichen Tun. Dieser seltsame, seltene Zustand kann eine Öffnung hin zu Neuem, ins noch Ungedachte, Unvertraute, auch in den Bereich der Lösungen und Antworten sein.

Und doch wird aus diesen diversen kategorialen Rahmungen möglicherweise nicht immer, nicht ganz herauszukommen sein. Wie auch die Selbstreflexion früher oder später einsetzen wird und damit unwillkürlich Fragen und Überlegungen, die sich in das Hantieren mit Kurze Zeit Lange Weile mischen, es begleiten, stören, ergänzen oder erst vervollständigen. So verstanden ist Kurze Zeit Lange Weile nicht nur ein komplexes Spielzeug; wer es in irgendeiner Weise nutzt, hat die Möglichkeit, zum Spielzeugen seiner selbst zu werden.

 


Kurze Zeit Lange Weile

Ein Spiel mit abstrakten Metaphern

Von Giuliana Benassi

 

 

Gedanken gleiten dahin, verändern sich, wandeln ihre Gestalt. Während ich schreibe, passiert genau dies, also versuche ich, sie einen Moment lang anzuhalten und die verschiedenen Bilder von Britta Lenks Arbeit, die ich in JPG auf meinem PC habe, noch ein bisschen länger anzuschauen, mein Gedächtnis aufzufrischen. Letzten Januar hatte ich das von der Künstlerin Kurze Zeit Lange Weile benannte Werk aus nächster Nähe gesehen, doch auch damals war es keine endgültige Version.

Tatsächlich existiert keine endgültige Version des Werks; seine Abbildungen fallen ganz unterschiedlich aus, da es keine definitiv vorgegebene Form hat.

Wie das Boggle-Spiel, das aus einem Satz buchstabenbeschrifteter Würfel besteht, mit denen sich verschiedene Wörter kombinieren lassen, besteht Lenks Arbeit aus einem „Satz“ verschiedener Betonkörper und farbiger viereckiger oder kreisförmiger Glasgebilde. Und [analog zu Boggle] ergeben sich aus unterschiedlichen Kombinationen dieser Körper verschiedenartige Kompositionen. Der Vergleich mit Boggle ist nicht nur der spielerischen Note geschuldet, die das Werk beinhalten kann, sondern beruht vor allem auf einer weiteren [Dimension] dieser Arbeit – der Reflexion des Verhältnisses zwischen Denken und Sprache.

„Denken und Sprechen rechnen miteinander. Sie setzen sich fortwährend an die Stelle des anderen. Sie sind Mittler und Stimulus füreinander. Jeder Gedanke kommt aus dem Gesprochenen und kehrt dorthin zurück, jedes gesprochene Wort wird in den Gedanken geboren und endet wieder in ihnen. Es gibt zwischen den Menschen und in jedem einzelnen eine unglaubliche Vegetation sprachlicher Äußerungen, deren Adern die ,Gedanken‘ sind“, schrieb Maurice Merleau-Ponty 1960, um die enge Korrelation zwischen Sprache und Denken zu beschreiben. Genau aus dieser Korrelation, aus dieser essenziellen Beziehung, bringt Lenk ihre Arbeit hervor. Jede von der Künstlerin gebildete Komposition wird zum „Wort“, einem vergänglichen Werk, das neu geschrieben werden kann und nicht endgültig ist. Es ändert sich ständig wie auch unsere Sprache. Die Lange Weile des Titels wird so zur Dimension des Denkens und seiner Kristallisation, die Kurze Zeit wird zur geschwinden Intuition, zur Handlung, die mit der Geste des Zusammensetzens der Elemente zusammenfällt. Diese „Zeiten“ können sich überlappen, zusammenfallen oder einander ersetzen.

Für die Künstlerin ist die Arbeit eine mentale und zugleich physische Übung, eine formale Recherche mit dem Ziel, die Geste in Denken zu transformieren und umgekehrt, sie ist auf das Konstruieren gerichtete Inspiration, und potenzielle permanente Dekonstruktion.

Ein Spiel mit abstrakten Metaphern.

Ich wage dieses Oxymoron, um den pulsierenden Kern von Lenks Arbeit zu beschreiben.

Die Metapher ist eng mit dem Diskurs über Sprache verbunden: „Außerdem verwendet unsere theoretische Sprache, die das Leben des Geistes widerspiegeln soll, genau die gleichen Bilder“, schreibt Hannah Arendt in ihrem letzten Buch The Life of the Mind und betont: „Das Denken und die es begleitende theoretische Sprache [...] bedürfen [...] der Bilder, um die Kluft zwischen einer Welt der Sinneserfahrung und einem Reich zu überbrücken, in dem es ein solches unmittelbares Erfassen von Daten überhaupt nicht geben kann.“ 

Die Metapher erlaubt gewissermaßen Bedeutungen, die nicht in die Zuständigkeit der Sinne fallen, in ein den Sinnen zugängliches Format zu übertragen (metapherein, trans-portieren), was dem Innerlichen erlaubt, sich in sinnlich wahrnehmbarer Form äußerlich zu manifestieren.

Eine solche sinnfällige Erscheinungsform bringt die Künstlerin mit den von ihr geschaffenen Elementen hervor, die miteinander kombiniert ihrerseits abstrakte Formen bilden. Die Arbeit zeitigt Verweise auf Bedeutungen, wird zum Spiegel, reflektiert Gedanken, kehrt zurück zum Geistigen und sucht neue Metaphern.

Der Prozess der Wiederholung der Reflexion tritt auch in anderen Werken der deutschen Künstlerin zutage, wenn auch mit anderen Ansätzen – so etwa die Wahrnehmung betreffend wie im Werk o. T. (I 02-1-2016), einer Installation bestehend aus einer Holzkiste, Einwegspiegeln und LED-Licht, die in einer Metallstruktur aufgehängt sind. Jedem Ein- oder Ausschalten der LEDs innerhalb der Struktur entspricht eine jeweils unterschiedliche Ansicht der Box bzw. der nach außen spiegelnden Fläche, oder eines potenziell unendlich tiefen Raums, der dank der sich selbst reflektierenden Spiegelung des Einwegspiegels entsteht. Die Reflexion und die Fähigkeit, [verschiedene] mögliche Konfigurationen – in diesem Fall des Raumes – zu erzeugen, kommen durch die ganz eigene, wechselnde Ansicht dieser besonderen Spiegelfläche zustande. In der Serie der Collagen spielt Lenk stattdessen mit dem Potenzial abstrakter Formen, den weißen Umraum mit einzubeziehen oder nicht, und erteilt dabei dem Betrachter „carte blanche“, um hier einmal ein Wortspiel zu benutzen. Insofern konzipiert Lenk die abstrakte Form hier wie ein Abbild, das etwas Unsichtbares zeigen kann, womit sie sich auf den Philosophen und Kunsthistoriker Gottfried Boehm bezieht, dem zufolge sich abstrakte Bilder nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf die Welt beziehen.

Man könnte sagen, dass in Kurze Zeit Lange Weile das Konzept der Abstraktion sowohl mit der Form als auch mit dem Denken in einer Kreisbeziehung zusammenfällt, in der das Denken zur Form wird und in abstrakter Form zum Denken zurückkehrt.

In diesen potenziell unendlichen Kreislauf ist Lenks Werk wie ein auf immer unvollendetes work in progress eingebettet, ein offenes Werk insofern, als die Bilder der Kombinationen, die im Katalog und in der Ausstellung zu sehen sind, nicht das endgültige Werk darstellen, sondern nur einige seiner möglichen Formen.

Es liegt daher beim Betrachter, das Werk in Gedanken umzugestalten, indem er neue Zusammensetzungen bildet und sich somit am unendlichen Spiel der abstrakten Metaphern beteiligt.

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Sebastian Viebahn